Hör-Lyrik - Rilke: Brief an die Mutter. 1916. Aus München.
Автор: Hör-Lyrik
Загружено: 2021-12-13
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Als ich Dir vor einem Jahr, von Wien aus, meinen Weihnachtsbrief sandte, da dachte ich unwillkürlich, die nächsten Weihnachten würde, müßte die Welt wieder im Heilen sein. Sie ist es nicht, und wenn das Bewußtsein ihres unaufhörlichen Wund- und Geschlagenseins über jedem Tag liegt, über jeder Nacht, wie sehr erst erfüllt und erschwert es das Erlebnis gerade dieses, des Heiligen Abends, des Abends, an dem zu Erden das Heil geboren wurde, das mißkannte, mißhandelte, geopferte Heil der Welt. Voriges Jahr gab es keinen in der Victorgasse, und ich weiß nicht, ob ich heuer den Glanz eines Christbaumes ertrüge, ja ob nicht das mindeste Geschenk zum Gewicht würde in meiner Hand. Es ist so viel Schwere in der Luft, daß sie in jeden Gegenstand schlägt, den man zu fassen und zu halten genötigt ist –, und das Scheinen und Flackern jedes Lichts, weit entfernt ein Schimmer zu sein, nimmt die Bedeutung der namenlosen Unsicherheit an, in der wir leben. Wer hat das Herz, eine Feier aus sich aufzubringen, wer wird die Kraft haben zum Weihnachtslied anzusetzen? Wer wird knieen dürfen und nichts als feierlich sein? Neben dem Feiern ist in jedem das stumpfe Trauern, und die Stimme, die das Weihnachtslied zu heben hat, hat an der Klage vorbeizugehen. Und das Knieen, das Erhebung bedeutet, ist dasselbe Knieen, das Unterwerfung ausdrückt unter den Druck eines den ganzen Raum ausfüllenden Schicksals. Und doch, liebe Mama, indem uns noch einmal zugemutet wird, in so schwer verhängter Welt das heilige Fest hinzunehmen, wird die Probe an uns gerichtet ob wir über uns hinaus zu feiern verstehen. Denn nicht uns feiern wir in diesem heilhaft geborenen Kind, sondern die Kräfte des höheren Geistes. Auch nicht seine Wendung zu uns, denn wir haben sie verschmäht und verleugnet und haben ihn nicht zur Einkehr zugelassen. Den Geist selbst, seine lautere Verwandlung in ein sichtbares Kind, seine Einsamkeit und Unschuld, sein Bei-uns-in-Gefahrsein beten wir an und begehen es im erhobenen Gemüt. Wir haben nichts gemein mit diesem göttlichen Kinde, als daß wirs grade noch wahrnehmen, wie die Könige und die erstaunten Hirten den Stern wahrnehmen, der über seiner Ankunft in den Himmeln ging. Dieses Kind in seiner unübertrefflichen Armut ist für uns die äußerste Stelle der Welt, das Ende unseres Augenlichts, das Fernste unseres Herzens: darum ist es so klein, ist ein Kind aus Entfernung, und wächst uns nicht auf als am Kreuze, das mitten in unserem Herzen steht. Und doch vielleicht befestigt der Zwang ein solches Fest in solcher Zeit zu feiern (das Fest der Unschuld mitten in einer Welt verstricktester Verschuldung) vielleicht bestärkt diese Not in uns den Entschluß, nie das Unsere zu preisen, sondern an den Weiten unseres Wesens uns zu heiligen. Und so sehr ich mich unfähig fühle, Weihnachten in meiner Stube anzurichten, saß ich in der Mitternachtsmette oben an der Orgel, ich stimmte gleichwohl den stärksten Psalm an und priese die unerschöpfliche Weihnacht.
(C) 2021 Benjamin Lucas.
(video made with @headlinervideo)

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