Gerhard Blum: Johann Sebastian Bach, 3 Nun komm, der Heiden Heiland BWV 659/660/661

Jeden Sonntag um 10 Uhr MEZ ein neues Video „rund um die Orgel“

Every Sunday at 10am CET a new video with organ (or other keyboard) music

Mit freundlicher Genehmigung der Vereins KEMPENER ORGELKONZERTE e.V.

00:00 Intro
00:19 BWV 659
05:39 BWV 660
08:52 BWV 661

Dass Bach, als er in seinem letzten Lebensjahrzehnt eine Handschrift mit Reinschriften von bereits früher entstandenen Choralbearbeitungen anlegte, dies mit dem Ziel tat, diese Werke einem Zustand der Vollendung zuzuführen, gilt als ausgemacht..
Aber war dem wirklich so?
Bereits die Ursprungskompositionen (ihr Entstehen in Weimar ist durch aus dieser Zeit datierende Abschriften gesichert) waren in ihrer Art unübertroffene Meisterwerke – u.z. gerade auch in der neugierigen Unbekümmertheit, mit der sie formale Strategien ausprobieren, die Bach erst später in seinen Leipziger Jahren zu jener mathematisch abgezirkelten Architektonik weiterentwickelt hat, die wir so bewundern. Die Rohdiamanten aus seiner Zeit als Hoforganist in Weimar zu Brillianten zu schleifen, hätte einen weitergehenden Aufwand erfordert, den Bach offensichtlich gescheut hat; Beseitigung von Satzfehler, gelegentliche Glättung der Ornamentik etc. sind mehr oder weniger rein kosmetische Korrekturen.
Dass Bach selbst dabei nicht sehr systematisch zu Werke gegangen ist, beweist die Endfassung der Choralbearbeitung "Nun komm, der Heiden Heiland" BWV 659. Im zugrunde liegenden Choral lauten erste und vierte (zugleich letzte) Choralzeile gleich, was sich darin niederschlägt, dass Bach auch deren Bearbeitung gleichlautend gestaltet. Eine kleine rhythmische Änderung, die er in der revidierten Fassung der Kolorierung der ersten Choralzeile angedeihen lässt, versäumt er allerdings, auch bei der letzten Choralzeile anzubringen. Vergessen? Absicht? Überhaupt hat man, wenn man die Sammlung als Ganzes überblickt, den Eindruck, als wenn Bach die ursprüngliche Energie verhältnismäßig schnell abhanden gekommen sei: Zahl und Art der Revisionen werden immer unerheblicher.
In BWV 659 liegt zudem der Fall vor, dass er offenbar einen logischen Lapsus zu beseitigen suchte, dabei aber wohl feststellen musste, dass er – wenn er damit erst einmal beginnen würde – an kein befriedigendes Ende kommen würde: Das Stück beginnt mit einer Vorimitation des Liedbeginns in Tenor und Alt (g-g-f-b), welche jene Erhöhung des Leittons (g-g-fis-b) nicht kennt, die Bach bei dieser Melodie normalerweise angewandt hat und die (in der Urfassung) eben auch bei der dem Sopran zugewiesenen ornamentierten Solostimme begegnet. Bei der Revision fehlt nun an dieser Stelle das Vorzeichen (und auch keiner der zeitgenössischen Kopisten hat sich bemüßigt gesehen, es zu ergänzen!) – hat Bach es vergessen? Wollte er eine Angleichung an die Vorimitation herstellen? Jedenfalls hätte er – eine bewusste Eliminierung vorausgesetzt – die Kongruenz der ersten und letzten Choralzeile zerstört. Freilich fehlt der letzten Choralzeile die genannte Vorimitation – und damit war auf ihre Art bereits die Erstversion inkonsequent, weil sie zwar nach Art eines herkömmlichen Orgelchorals imitatorisch beginnt, diese Technik aber nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, bei den weiteren Choralzeilen weiterverfolgt... gerade das macht den Zauber des Stückes aus, das sich – einmalig in Bachs Schaffen – in der überbordenden Verzierung der Choralmelodie von dieser gänzlich löst und sich in immer weitergehenden Figurationen verliert. Es hat den Anschein, als hätte Bach schon in den ersten Takten jeglichen wohlüberlegten Plan aufgegeben, um sich ganz seiner Stimmung hinzugeben...
Höchst eigenartig ist die zweite Bearbeitung von "Nun komm, der Heiden Heiland" BBV 660, deren Original ausnahmsweise sogar im Autograph erhalten ist. Rätselhaft ist die Überschrift "a due bassi", die bezeichnenderweise in der Urfassung fehlt. In dieser begegnet die gewöhnliche Anweisung "für zwei Klaviere und Pedal", die der eigentlich ganz gewöhnlichen Faktur Rechnung trägt: Über dem vom Pedal ausgeführten Bass führt die linke Hand eine bewegte Begleitstimme aus, während die rechte Hand, von Pausen unterbrochen, die Choralmelodie (abermals in, aber diesmal deutlich weniger üppiger, Verzierung) beisteuert. Tatsächlich ist diese der linken Hand zugewiesene Stimme keine wirkliche Bassstimme, sondern aufgrund ihres Umfangs eher als Tenorstimme anzusprechen. Dass das Pedal wirklich die eigentliche Bassstimme darstellt, ergibt sich aus den Kadenzen, in denen stets das Pedal die üblichen Kadenzschritte ausführt, sodass kein Zweifel bestehen kann, dass die Pedalstimme ganz gewöhnlich mit 16' registriert werden muss, was für die linke Hand nicht in Frage kommt. Der durch die Registrierung gegebene Oktavabstand der beiden "Bass-Stimmen" wird auch in einer von Johann Gottfried Walther angefertigten Bearbeitung respektiert bzw. umgesetzt, bei der der Choral (in entkolorierter Fassung) ins Pedal verlegt ist, während die Begleitstimmen von den Händen übernommen werden.